Haben inkongruente innere und äußere Erlebnisse einen Nachteil kongruenten Erlebnissen gegenüber? Oder sind die Erlebnisse gleich wertvoll?
Das Erleben ist freier harmonischer, ungezwungener, wenn innere und äußere Erlebnisse kongruent sind. Der zugehörige Flow ist stabiler und robuster. Ich denke tatsächlich, dass der Zustand kongruenter Erlebnisse besser ist. Wenn der Flow allerdings zerstörerisch ist, ist die Inkongruenz ein Hebel mit dem man ihn stoppen oder umlenken kann; Inkongruenz (Zweifel, Hinterfragen, Paranoia) hat also durchaus eine wichtige Funktion. Deshalb ist es wichtig dass sich Leute am bamboozlement (bullshit) stören, egal auf welcher Ebene. 100% freien flow mit kongruenten Erlebnissen gibt es nur in einer imaginären Utopie, einem religiösen Paradies, oder in einer rein subjektiven Realität.
Ein gesteigertes Harmoniebedürfnis öffnet die Tür zu Manipulation, nicht zuletzt zu Selbstmanipulation (und ist damit eine Weg in den Wahn).
Adorno sagte dazu es gäbe kein richtiges Leben im falschen 1. Welche Konsequenzen hat das?
Will man ein richtiges Leben muss man demnach sicherstellen, dass es auf einem robusten existentiellen Fundament steht und die anderen Ebenen auf diesem Gerüst konsistent aufbauen. Die Alternative ist es sich in einen bestehenden System einzurichten. Besteht man auf die Kongruenz, die Richtigkeit eines solchen Lebens muss das System auf Herz und Nieren geprüft werden.
Was heißt richtig?
Man könnte richtig mit kongruent gleichsetzen. Also wenn Taten und Konsequenzen mit vermeintlichen Werten übereinstimmen. Der Kapitalismus wirkt in der Betrachtungsweise kongruent. Die Werte sind direkt und einfach, nämlich Profitmaximierung. Eine einzige Zahl die maximiert werden soll. Sogar wenn der Kapitalismus vermeintlich nicht kongruent ist, ist er es. Wird zum Beispiel Geld in den Schutz der Umwelt investiert, was ja oberflächlich nicht der Gewinnmaximierung dient, wird dann doch ein Schuh draus, wenn dadurch neue Kunden gewonnen werden, die bereit sind für sowas Geld auszugeben (greenwashing). Andere Systeme mit komplexeren, mehrdimensionalen Erfolgsmetriken wirken unauthentischer2. Die Werte des liberalen Humanismus decken sich z.B. oft nicht mit den konkreten Ereignisses die man in der Welt beobachten kann.
Stärkt man dann das ehrliche, transparente kapitalistische System, oder versucht man ein schiefes, auf Idealen aufgebautes System, gerade zu biegen?
Entscheidet man sich für letzteres muss man als erstes feststellen ob es nicht eine Teilmenge des kapitalistischen Systems ist. Wäre das so, wären die Anstrengungen vergebens, man könnte sich direkt auf die Annahmen des Kapitalismus beziehen und sich Komplikationen sparen.
Adornos Ausspruch beinhaltet komplexe Wörter wie richtig und falsch (und Leben). Mit der Umformulierung es gibt kein kongruentes Leben im inkongruenten kann man das ein wenig entwirren. Ganz konkret: Verpflichtet man sich subjektiv irgendwelchen Idealen, und sucht Zuflucht in ihnen mittels eines intersubjektiven Systems, welches die selben Ideale vorgibt, geht das nur gut, wenn das System nicht Untermenge eines größeren Systems ist, das diese Werte nicht hat. Noch konkreter: Wenn es in einer Weltanschauungsgemeinde um Geld geht, diese sich aber vom Kapitalismus abgrenzen will, ist das bullshit.
Offene Punkte:
Kann ein globales intersubjektives System, oder eine Stufe kleiner, ein Staat, mit diesem Level an Skepsis zurechtkommen?
Wenn ein weiterer Gedanke, nämlich die Wertschätzung von Stabilität und Ordnung, auch Teil der Skepsis sind, ja. Dann ist die Skepsis produktiv. Churchill formulierte es so, dass das aktuelle System (Demokratie, gilt aber auch für Kapitalismus) das schlechteste System ist, bis auf alle anderen. Fehlt diese Wertschätzung der Stabilität kommt es zu einer Zersetzung derer, ohne eine Vorstellung eines Systems, das für neue Stabilität sorgt.
Anmerkungen
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Aus Minima Moralia (entstanden zwischen 1944 und 1947 im amerikanischen Exil). In der ersten, ursprünglichen Textfassung lautete der Satz: “Es läßt sich privat nicht mehr richtig leben.” [Wikipedia] Gefällt mir besser, ist aber nicht so prägnant. ↩
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Vielleicht ist das aber ein notwendiges Symptom genau dieser Komplexität der Werte, und damit nicht als etwas negatives zu sehen. ↩