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Mutterkorn: Die vergessenen Traditionen

Gab es wirklich keinerlei Vorkommen von LSD vor seiner Entdeckung von Hofmann? Wurde es nie historisch genutzt? Die Antwort ist komplexer und düsterer als man zunächst vermuten würde.

1. Die dunkle Seite: Ergotismus (“St. Anthony’s Fire”)

Im Mittelalter verursachte versehentlicher Mutterkorn-Verzehr durch kontaminiertes Roggenbrot verheerende Epidemien in Europa, bekannt als “St. Anthony’s Fire”, mit Symptomen wie Gangrän, Halluzinationen, Krämpfen und Tod. Die erste dokumentierte Epidemie ereignete sich 857 in Deutschland; 994 starben allein in Frankreich 40.000 Menschen in den Regionen Aquitaine, Limousin, Périgord und Angoumois.

Der Antoniterorden, benannt nach dem heiligen Antonius, entwickelte sich als Antwort auf diese Katastrophe. Der Orden gründete 396 Siedlungen und 372 Krankenhäuser zur Behandlung der Opfer, das erste spezialisierte europäische medizinische Wohlfahrtssystem. Die Behandlung war bemerkenswert fortschrittlich für ihre Zeit: Die Mönche verabreichten mutterkornfreie Nahrung, gefäßerweiternde Kräuterweine und “Antoniten-Balsam”, das erste transdermale therapeutische System (TTS) der Medizingeschichte.

Die Epidemien prägten nicht nur die Medizingeschichte, sondern auch die europäische Kultur. England blieb weitgehend verschont, da dort Weizen statt Roggen das Hauptnahrungsmittel war, und Weizen ist resistent gegen Mutterkornbefall. 1722 wurde sogar Zar Peter der Große in seinem Feldzug gegen das Osmanische Reich gestoppt, als seine Armee, die entlang der Terek-Steppe reiste, von Ergotismus befallen wurde und gezwungen war, sich zurückzuziehen (Wikipedia 2024).

2. Die medizinische Nutzung: Geburtshilfe

Während Europa Mutterkorn als Fluch erlebte, gab es in Asien eine ganz andere Geschichte. In China wurde Mutterkorn bereits um 1100 v. Chr. als geburtshilfliches Mittel erwähnt, eine Anwendung, die in Europa erst im 17. oder 18. Jahrhundert bekannt wurde.

In Europa selbst wurde die geburtshelfende Wirkung erstmals 1582 dokumentiert, als beschrieben wurde, dass eine Geburt durch die Gabe einiger “Sporen” des secale cornutum beschleunigt werden konnte. Die Dosierung war jedoch extrem ungenau, was häufig zu Uterusrupturen führte. Der ursprüngliche Spitzname “pulvis ad partum” (Pulver zur Geburt) wandelte sich bald in den makabren Namen “pulvis ad mortem” (Pulver zum Tod).

In den 1750er Jahren führten Apotheken Mutterkorn als “pulvis ad partum”, aber die Verwendung durch orthodoxe Mediziner eskalierte erst 1808, als der Arzt John Stearns einen Brief an einen Kollegen schrieb, der in der Medical Repository of New York veröffentlicht wurde. Stearns hatte von einer deutschen Immigrantin von der Wirkung erfahren und warnte eindringlich: “Sie werden von der Plötzlichkeit seiner Wirkung überrascht sein; es ist daher notwendig, vollständig vorbereitet zu sein, bevor Sie das Medikament geben”. Leider ignorierten viele diese Warnung, mit dem Ergebnis, dass Mutterkorngebrauch bis 1824 mit Totgeburten korreliert war (ASM 2018).

Nach 1828 wurden Mutterkorn-Alkaloide nicht mehr während der Geburt verwendet, sondern nur noch zur Verhinderung postpartaler Blutungen. Erst 1932 isolierten Dudley und Moir Ergometrin, das sich als sehr spezifisch uterotrop erwies, und damit eine neue Ära der sicheren Anwendung einleitete (van Dongen et al. 1995).

3. Die mystische Seite: Die Eleusinischen Mysterien

Und hier wird es richtig interessant, und spekulativ.

Die Eleusinischen Mysterien waren eine der bedeutendsten religiösen Praktiken des antiken Griechenlands, die sich über zwei Jahrtausende (ca. 1500 v. Chr. bis 395 n. Chr.) erstreckte. Im Zentrum stand das Trinken eines rituellen Getränks namens Kykeon, das angeblich transzendente Visionen hervorrief. Plato, Sokrates, Sophokles, Cicero, Plutarch, Hadrian und Marcus Aurelius waren alle Initiierte der Mysterien.

Die Ergot-Hypothese

1977 postulierten R. Gordon Wasson, Albert Hofmann (der Entdecker von LSD) und der Philologe Carl A.P. Ruck in ihrem bahnbrechenden Buch The Road to Eleusis, dass das Getränk Kykeon mit Mutterkorn versetzt war.

Die Theorie basierte auf mehreren Überlegungen:

  • Kykeon bestand laut der Homerischen Hymne an Demeter aus Wasser, Gerste und Poleiminze
  • Gerste kann von Mutterkorn (Claviceps purpurea oder Claviceps paspali) befallen werden
  • Mutterkorn enthält Lysergsäure und verwandte Alkaloide, Vorläufer von LSD
  • Die antiken Berichte beschrieben tiefgreifende mystische Erfahrungen, die über bloße theatralische Inszenierungen hinausgingen

Archäologische Evidenz

2002 lieferten archäologische Funde erstmals physische Beweise. In Mas Castellar de Pontós (Girona, Spanien), einem Tempel, der um 300 v. Chr. den Göttinnen Demeter und Persephone geweiht war, wurden Mutterkorn-Sklerotien gefunden: sowohl in einem rituellen Kelch als auch im Zahnstein eines 25-jährigen Mannes. Dr. Enriqueta Pons entdeckte außerdem Kratere mit Szenen der Eleusinischen Riten, die die Verbindung zwischen dem Fundort und den Mysterien bestätigten (Wikipedia 2024).

Die Kritik

Die Hypothese bleibt jedoch heftig umstritten. Die Haupteinwände sind bemerkenswert überzeugend:

Das Problem der Toxizität: Warum berichten antike Autoren nur von transzendenten, positiven Erfahrungen, aber nie von den qualvollen Symptomen einer Mutterkornvergiftung, Krämpfe, Brennen, Gangrän? Alle Berichte sprechen von tiefgreifenden psychedelischen und sogar transzendentalen Erlebnissen, aber nicht von “bad trips” begleitet von körperlichen Qualen, die immer aus Mutterkorneinnahme resultieren.

Hofmanns Antwort: Albert Hofmann spekulierte, dass ein spezielles Extraktionsverfahren entwickelt worden sein könnte, um die toxischen, nicht-wasserlöslichen Peptid-Alkaloide zu entfernen und nur die wasserlöslichen psychoaktiven Verbindungen (Ergonovin, Lysergsäureamid) zu bewahren. Er schlug auch vor, dass Claviceps paspali (eine andere Mutterkornart, die auf Paspalum-Gras wächst) wahrscheinlicher sei als das Gersten-Mutterkorn, da ihre Alkaloide stärker psychodelisch wirken (Valencic 1994).

Alternative Hypothesen: Andere Forscher, darunter Terence McKenna, schlugen vor, dass Psilocybin-haltige Pilze die wahrscheinlichere Zutat waren. Robert Graves favorisierte den Fliegenpilz (Amanita muscaria). Wieder andere argumentierten, dass DMT-haltige Pflanzen wie Akazien die Antwort sein könnten (Truffle Report 2021).

Das Produktionsproblem: Um Tausende von Teilnehmern bei den jährlichen Mysterien zu versorgen, wäre eine enorme Menge an gereinigtem Mutterkorn erforderlich gewesen, eine logistische und technische Herausforderung (Hellenic Australia 2021).

Die nüchterne Alternative: Traditionelle Gelehrte argumentieren, dass die euphorischen Zustände wahrscheinlich durch die Kombination aus dreitägigem Fasten, stundenlangem Tanzen und der suggestiven Kraft der Rituale selbst hervorgerufen wurden, eine Kombination, die durchaus veränderte Bewusstseinszustände stimulieren kann (Classical Wisdom 2021).

Das Geheimnis bleibt

Das Rätsel der Eleusinischen Mysterien ist bis heute ungelöst. Die Initiaten waren unter Todesstrafe verpflichtet, die Geheimnisse nicht preiszugeben, und sie hielten ihr Versprechen über zwei Jahrtausende hinweg. 395 n. Chr. zerstörten die Westgoten die Stadt Eleusis, und mit ihr verschwand das Wissen um Kykeon für immer (GreekReporter 2023).

Fazit: Drei Gesichter des Mutterkorns

Die Geschichte des Mutterkorns ist eine Geschichte der Ambivalenz, Gift und Medizin, Fluch und möglicherweise sakrales Entheogen.

Es gab durchaus Traditionen, aber keine positiv-rituellen wie bei Peyote oder Psilocybin-Pilzen, die von indigenen Völkern über Jahrtausende mit präzisen Zubereitungsmethoden kultiviert wurden. Mutterkorn war:

  1. Ein gefürchtetes Gift (versehentlich konsumiert, mit verheerenden Folgen)
  2. Ein medizinisches Werkzeug (gezielt eingesetzt, aber extrem gefährlich)
  3. Möglicherweise ein sakrales Entheogen (höchst spekulativ, archäologisch angedeutet, aber nie bewiesen)

Die Unterscheidung ist entscheidend: Während indigene Völker über Jahrtausende sichere Anwendungen für Peyote und Psilocybin entwickelten, war Mutterkorn in Europa primär eine Katastrophe, die medizinisch kontrolliert, oder gemieden, werden musste.

Und vielleicht, nur vielleicht, wussten die Priester von Eleusis etwas, das mit den Westgoten unterging. Aber das bleibt ein Geheimnis, das die Geschichte gut gehütet hat.

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