Ziya Tong (T) geht in dem Buch The reality bubble dem ominösen System, das alles lenkt, auf den Grund. Sie gräbt dabei ziemlich tief und entwirrt das Ganze ein bisschen. Die Auswüchse des Systems sieht man nicht an der Oberfläche. Dort hat das Leben nicht viel mit der darunterliegenden Realität zu tun. Das Fleisch aus dem Geschäft sieht nicht wie ein Tier aus, Benzin nicht wie Dinosaurier, Strom aus der Steckdose nicht wie Kohle und der Müll verschwindet wie von Zauberhand. Auch bekommen wir nicht mit, wenn etwas (z.B. eine Spezies) verschwindet. Man registriert das Verschwinden erst wenn es weg ist. Am einfachsten lassen sich Wahrheiten unter den Teppich kehren, die unbequem sind. Respekt an alle, die sich in die Schatten wagen um das Fundament auf seine Tragfähigkeit zu überprüfen.

Was ist das System?

Neo spricht in Zion mit dem Regierungsrat.

Es ist immer die selbe Story, die es mindestens seit der Matrix (1999) auch in den Mainstream und die öffentliche Debatte geschafft hat. Das System hält uns am Leben, es erzeugt unsere Lebensmittel, unsere Energie und kümmert sich darum, das wir nicht in Müll ertrinken. Diesen drei Bereichen ist gemein, dass sie heimlich passieren. Es gibt keine Livestreams, die die Produktion unseres Fleisches hinter den gut abgesicherten Mauern der Tierfabriken, die Abholzung der Regenwälder zur Sojaproduktion oder das maßlose Entnehmen von Grundwasser für die Avocadoproduktion zeigen. Es zu filmen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen ist oft eine Straftat. T betont das Ungleichgewicht zwischen dem Individuum, das immer transparenter wird und auf allen Ebenen (sogar emotional) kontrolliert und beobachtet wird, und dem System, das sich immer weiter in den Untergrund zurück zieht. Es gibt scheinbar einen Trend, die Aufmerksamkeit weg von Aspekten, die uns zu einen Teil des Kreislaufs auf dem Planeten Erde machen, zu lenken. Man kann mehr Informationen über den Andromedanebel bekommen als über die lokale Putenfarm.

Civilization advances by extending the number of important operations which we can perform without thinking about them.
– Alfred North Whitehead | An Introduction to Mathematics (1911)

Die Wurzeln des Systems

T zeigt auf, wie die Industrialisierung nicht durch Erfindung von Fabriken, neuen Maschinen und Technologien unser Leben revolutioniert hat. Ausschlaggebend war die Möglichkeit Arbeit messbar zu machen. Das ging durch die Abstraktion von Zeit1 und Raum. Die Offenheit wurde fragmentiert, abstrahiert und gemanagt. Der Trick, der phänomenal gut gelungen ist, ist es keine Alternativen zuzulassen und den gesamten verfügbaren Raum mit Fragmenten zu füllen. Keiner wundert sich mehr, wie es die Wenigen schaffen die Vielen zu lenken und zu kontrollieren. Auch die Konsumkultur hat ihren Beitrag geleistet Arbeiter von sich aus zu motivieren immer mehr arbeiten zu wollen. Künstlich erzeugter Mangel als Triebfeder mehr zu schaffen. Dazu das Versprechen, sozial aufsteigen zu können, der American Dream. Schließlich wurde auch Freizeit ein Produkt das sich ins System eingegliedert hat. Ein weiterer Faktor ist, dass Geld schon länger nicht mehr an Materie gebunden ist. Als Konsequenz können global agierende Unternehmen frei auf dem Planeten investieren und die billigsten Arbeitskräfte und Ressourcen suchen.

(Fast) der gesamte Raum ist fragmentiert.

Die tiefste Wahrheit die verdrängt wird ist vermutlich, dass man Teil des Universums ist. Davon abzweigend haben sich unzählige weitere blinde Flecken ausgebildet, mit deren Konsequenzen wir uns jetzt rumschlagen müssen.

Wissenschaft

Das Buch ist in drei Teile gegliedert, die verschiedene blinde Flecken aufzeigen. Biologische blinde Flecken des Homo sapiens, blinde Flecken unserer Kultur und blinde Flecken unserer Zivilisation. T ist Wissenschaftsjournalistin. Sie sucht nach Lösungen in der Wissenschaft. Ihre Aufgabe ist es von jeher, Dinge die man sicher weiß zu hinterfragen. Wissenschaft will Dinge dabei nicht anders sehen, sie will Dinge objektiv sehen, hat also den Anspruch auf absolute, objektive Wahrheit. T spricht sich dafür aus, bei Fragestellungen, bei denen unsere evolutionäres Rüstzeug nicht ausreicht, unsere Intuition (den ominösen gesunden Menschenverstand) zu hinterfragen und den datengetriebenen Modellen der Wissenschaft zu vertrauen.
Die Prognose der Wissenschaft für das Leben auf unserem Planeten in nur wenigen Jahrzehnten ist jedoch sehr düster. Darauf, wie man mit so einer Prognose zuversichtlich in die Zukunft gehen soll, gibt T (wie viele solcher Bücher) nicht wirklich eine Antwort. Das letzte Kapitel des Buches heißt Revolution und T beschreibt das Problem, das Revolutionen traditionell haben: Wenn eine Regierung gestürzt wird, ihre systemischen Bausteine und die Denkmuster der Gesellschaft die diese Regierung ursprünglich hervorgebracht haben aber bestehen bleiben, werden sich diese Muster in einer neuen Regierung zwangsweise wieder manifestieren.
Da unsere Probleme aber primär global sind, macht es Sinn sich mit dem globalen System statt mit einzelnen Nationalstaaten zu beschäftigen. Bei blinden Flecken, die der Kultur immanent sind in die man geboren wurde, ist es eine enorm schwierige Aufgabe sie zu sehen. Zum Glück ist die Welt (noch nicht) komplett gleichgemacht und es gibt verschiedene Kulturen oder zumindest Aufzeichnungen von ihnen, die man nutzen kann um seine eigene Realität zu hinterfragen. Dann kann man die Gemeinsamkeit der blinden Flecken, bzw das bedingende Element identifizieren. Das tut T und identifiziert den Besitz als zentrales Thema.

Besitz

Vermeintlich ist das Ziel des Systems uns am Leben zu halten. Uns komfortabel vor der Härte der Natur zu schützen, uns mit Lebensmitteln zu versorgen, unsere Krankheiten zu heilen und uns ein zivilisiertes Leben zu ermöglichen. Wäre das tatsächlich das Ziel, gekoppelt mit Gleichheit und Wohlstand für alle Menschen, wäre es eine andere Welt als die, die man beobachten kann. Das System will alles besitzbar machen und findet dafür zugegebenermaßen extrem kreative Lösungen. Es schafft es Dinge die eigentlich gar keine Dinge sind, zu fragmentieren zu abstrahieren, greifbar zu machen, zu quantifizieren, abzupacken und als Produkt zu verkaufen.
Geplante Obsoleszenz (gibt es schon seit 1924) war auch so ein Geniestreich um die Wirtschaft trotz Sättigung der Konsumenten am Leben zu halten. Man könnte Produkte immer besser und langlebiger machen, hat dann aber gemerkt, dass das gar nicht gewollt ist.
Eine nahe liegende Fortsetzung dieses Trends ist es, Produkte nicht mehr nach ihrer Nützlichkeit und Effizienz hin zu entwickeln, sondern so, dass sie das Leben schwerer machen. Dinge die man automatisiert, und damit in den Hintergrund gerückt hat, wieder greifbar zu machen. Schafft man es diese Produkte unter das Volk zu bekommen öffnet man den Markt auch für Produkte die diese Probleme lösen.

Bisher war es kein großes Problem, dass ausgedachte Institutionen die Verantwortung über Luft und Wasser haben. Nun sind diese Institutionen seit einiger Zeit aber so mächtig, dass das gesamte Gleichgewicht des Planeten von ihren Entscheidungen abhängt. Aus den Augen aus dem Sinn funktioniert nicht mehr wenn der toxische Müll seinen Weg ins Grundwasser findet, man Mikroplastik in wild gefangenen Fischen findet, und man die Luft in den Städten nicht mehr atmen kann. Der Knackpunkt ist, dass Externalitäten nicht Teil der Gleichung sind. Genauso wie das niemand den Müll besitzen will. Es ist ein Spiel mit schlecht konstruierten unfairen Regeln, das uns jetzt so langsam einholt. Die Staaten (z.B. Vietnam, Malaysia und Thailand) die traditionell Millionen an Tonnen von (Plastik) Müll importiert haben passen ihre Gesetze an, so dass reiche Staaten neue Absatzmärkte für ihren Müll brauchen, oder sich national darum kümmern müssen.

Besitz ist meistens Statussymbol und damit nicht der Grund für Glück, sondern ein Marker dafür. Es gibt auch andere Arten von Glück, die andere Marker erzeugen. Dafür Verständnis zu schaffen scheint ein möglicher Weg aus der Besitz-Konsum-Spirale zu sein.

Es gibt auch durchaus Strömungen gegen den Besitz. So ist es z.B. seit 1865 nicht mehr erlaubt Menschen zu besitzen, und es gibt auch erste Beispiele, dass Flüsse die selben Rechte wie Menschen bekommen und ihre Interessen vor Gericht durchsetzen können, etwa seit 2017 der Whanganui Fluss in Neuseeland, oder seit 2018 der Regenwald in Kolumbien. Es bleibt zu hoffen, dass sich dieser Trend fortsetzt und irgendwann z.B. auch andere Tiere als den Homo Sapiens beinhaltet, etwa Schimpansen, die in der Lage sind einen Sonnenuntergang zu genießen.

Lösung

Es gibt Institutionen2, die den Anspruch von Firmen, Staaten und Einzelpersonen Dinge besitzen zu können legitimieren. Was bleibt wenn man das ablehnt? Worauf hat man dann Anspruch? Diese Institutionen sind von Menschen gemacht, genauso wie Staaten und Firmen von Menschen gemacht sind. Die Lebensgrundlage für Menschen, etwa Luft Wasser und Nahrung, sind aber nicht von Menschen gemacht. Ganz so einfach ist es natürlich nicht. Unsere Nahrungsproduktion konnte nur mit raffinierten technischen Prozessen, allem voran dem Haber-Bosch-Verfahren, so hoch skaliert werden um 8 Milliarden Menschen zu bedingen. Mit der Luft könnte es einen ähnlichen Weg gehen, einige Vorreiter verkaufen schon saubere Luft in Dosen.

T bezieht sich auf die Ideen von Joseph Campbells Heldenreise, und bietet sie als Lösung an. Die Verantwortung für Veränderungen liegt beim Einzelnen, der durch seine eigene Transformation das System, das ja seine Realität nur in den intersubjektiven Geschichten der Menschen hat, transformiert. Diese Geschichte verspricht Trost und spendet Hoffnung. Nur leider sind diese Ideen ja im liberalen Humanismus eigentlich schon recht gut etabliert und hatte lange Zeit eine Lösung zu erzeugen. Primär ist diese Geschichte das Rückrat der milliardenschweren Selbstverbesserungsindustrie. Auch ist sie die ideologische Basis für unser westliches Wertesystem, das wir den totalitaristischen Systemen entgegensetzen. Da kommt man nicht so einfach raus, Stichwort Sunk Cost Fallacy. Das System wird nicht weiter hinterfragt. Von wo aus den auch? Wer soll ernsthaft die Frage stellen, nicht wer die Welt besitzen soll (links oder recht, liberal oder autokratisch), sondern ob es überhaupt gut ist sie zu besitzen. Die Geschichte zeigt, das das kulturelle Meme der belebten Erde, die sich selber gehört und wir Teil von ihr sind, dem Meme des Besitzes und Tauschs nicht viel entgegenzusetzen hat3. Das Umfeld hat sich aber geändert und Memes die damals nicht stabil waren können es in einem neuen Umfeld vielleicht werden.

Larger hierarchies not only won more wars but also fed more people through economies of scale, which enabled technical and social innovations such as irrigation, food storage, record-keeping and a unifying religion. Cities, kingdoms and empires followed.
– Debora MacKenzie

Kritik

Erfährt man von solchen Dingen das erste Mal ist es fast unmöglich nicht geschockt zu sein. Die Tatsachen stehen erstmal auf einem Podest, nehmen viel Platz in der Aufmerksamkeit ein. Mit Empören ist es aber nicht getan, um neue, kreative Lösungen zu finden muss die Information verdaut und verinnerlicht, werden. Eine momentane Empörung verpufft mit der selben Geschwindigkeit, mit der sie entstanden ist. Oft sieht man eine Präferenz für das Schöne, Heile, Ursprüngliche, welches man aber nur noch als Symbole findet. Menschen, die sich an der Welt stören, wird oft geraten das Schlechte nicht so an sich ran zulassen und sich auf die positiven Dinge zu konzentrieren. Eigentlich ist dieser Ratschlag diametral falsch. Man muss genau hinsehen und nachfragen, darauf basiert unsere Demokratie.
Der Zweifel muss gerichtet sein, sonst wendet er sich gegen einen Selbst. Jeder Mensch stört sich an Ungereimtheiten und Doppelmoral, wenn er damit konfrontiert wird. Ist die Quelle aber versteckt bleibt einen keine andere Wahl, als an seiner Urteilsfähigkeit zu zweifeln. Auf Dauer tut sich eine Gesellschaft keinen Gefallen damit sowas zu begünstigen. Je höher sich diese Zweifel in einer individualisierten offenen Gesellschaft auftürmen, desto höher wird der Druck, das Bedürfnis nach einem Ventil. Die Höhe dieses Turms an Zweifel ist proportional dazu, wie tief die eigentliche Realität des Systems unter Iterationen von Symbolen und Simulakren vergraben ist.
Leute die sich mit solchen Sachen beschäftigen driften teilweise in seltsame Richtungen ab. Sie bereiten sich auf die Zombiapokalypse vor, werden autark, wollen sich abkoppeln und selbst versorgen können. Oft sind dies die fähigsten, begabtesten Menschen, weshalb es besonders schade ist wenn sie, anstatt ihre Energie in das Finden einer Lösung zu stecken, eine fatalistische Einstellung übernehmen und versuchen ihr lokales individuelles Überleben in einer postapokalyptischen Welt noch etwas zu verlängern. Zumindest haben sie das Gefühl etwas sinnvolles zu tun. Das ist eine Konsequenz der Individualisierung. Prepper sehen sich nicht als Teil des Universums und des Planeten, sondern als isolierte Instanz auf dem Planeten.


Anmerkungen

  1. 1524 wurde die erste Taschenuhr erfunden. Vorher gab es zur Zeitmessung nur Sonnenaufgang, Sonnenuntergang und Mittag. Erst im 18. Jahrhundert wurde es normal eine Uhr zu haben. Diese Art der Zeit definiert unser Verständnis von Zeit an sich. Zeit an sich ist immateriell, man kann sie nicht instrumentalisieren. Durch die Erfindung der Uhr ging das. 

  2. Formalisiert wurde das spätestens von John Locke, 1690 in ‘Second Treatise of Civil Government’. 

  3. Christopher Columbus hat 1493 Land gegen wertlose Glaskugeln tauschen können, vermutlich weil die Idee so fremd war Land besitzen zu können.