Eine häufige Einstiegsfrage in die Philosophie ist ob das was passiert ist auch so passieren musste. Ob ein Eintreten eines Ereignisses ein gültiger Beweis ist, dass es so eintreten musste, oder ob es auch anders hätte kommen können. Die uralte Frage nach der Natur des Schicksals.

Eine mögliche Erklärung ist, dass jede Entscheidung einen neuen Ast im Raum aller möglichen im Raumzeit-Kontinua aufmacht, in dem es keine Alternative gab/gibt. Innerhalb des Astes ist die Zeit linear und alles musste so passieren wie es passiert ist, weil es so passiert ist. Man kann auch argumentieren das Zeit innerhalb eines Astes eine Illusion ist, da alles gewissermaßen gleichzeitig passiert. Alle möglichen Ausgänge werden in parallelen Ästen realisiert. Das ist die multiverse Hypothese, die im Rahmen der Quantenmechanik seit dem frühen 20. Jh diskutiert wurde, aber nie richtig Fahrt aufgenommen hat, vermutlich aus Mangeln an konkreten Anwendungen. Im Rahmen von quantenmechanischen Entscheidungen, wenn also eine Messung an einem quantenmechanischen System durchgeführt wird, kann man das auch nüchtern und abstrakt durch zu überlegen. Man kann als Gedankenexperiment eine Position außerhalb des sich entfaltenden Entscheidungsbaumes, der parallele Multiversen symbolisiert, einnehmen. Bei menschlichen Entscheidungen, vor allem den eigenen, ist das nicht so leicht möglich. Man führt die Analyse mit dem gleichen System durch, das auch die vermeintliche Entscheidung trifft. An der Stelle geht es auch nicht unbedingt weiter. Im Moment ist der Forschungsstand nämlich, das die einzelnen Äste komplett entkoppelt sind und es somit keinen Austausch zwischen ihnen geben kann. Als mit Bewusstsein geplagtes und gesegnetes Individuum ist also eine Schlussfolgerung der multiverse Hypethese die, an Schicksal zu glauben, zumindest bei vermeintlich zufälligen Ereignissen.

Gibt es auch andere Ereignisse? Welche die mit freien Willen und bewusster Entscheidung zu tun haben? Hier wird es naturgemäß schwammig, aber ich versuche es mal:

Nicht direkt, Entscheidungen werden spontan im Unterbewusstsein getroffen und später mit Bedeutungssoße vom analytischen Teil des Gehirns übergossen. Das heißt aber nicht, das man gar nicht auf die eigentliche Entscheidung Einfluss nehmen kann. Will man die spontanen Entscheidungen in eine fundamentale Richtung auslenken muss man ans Unterbewusstsein, an tiefere, ältere Bereiche des Gehirns. Diese sind nicht mit logischen Denken zugänglich, man braucht andere Techniken, eine Art des Denkens die nicht im frontalen Kortex angesiedelt ist, sondern in anderen Gehirn (und/oder Körper-) Bereichen. Da geht es dann auch um fundamentale Funktionen wie z.B. Atmen, Herzschlag, Verdauung und Zellerneuerung.

Das wäre eine mögliche Grundlage für eine Gesellschaft, aber keine die sich (zumindest bei uns) durchgesetzt hat. Die Wurzel für unsere Kultur und unseren Wohlstand ist eine von außen vorgegebene Moral, aufgrund derer man spontane Entscheidungen nochmal kontrolliert. Eine Art innerer Polizist, der eine nachgelagerte Kontrolle des spontanen Impulses symbolisiert.
Das fing schon lange vor den Gesetzen des Staates mit impliziten ‘Gesetzen’ des jeweiligen Kulturraumes an. Die lassen sich nicht so klar und prägnant wie die Gesetzestexte des Staates formulieren, sind dafür aber zugänglicher für den Menschen. Ihre Form sind Mythen und Geschichten. Sie kommunizieren, was man eigentlich nicht mit Worten kommunizieren kann, nämlich wie man zu sein hat, im Gegensatz wie man zu handeln hat.

Ausformuliert wurden diese impliziten gesellschaftlichen Gesetze von den ersten Philosophen (oder Propheten). Die fanden sich in einem Zustand entkoppelt von ihrer Gesellschaft, haben sich aber nicht komplett im Wahn oder in der Unendlichkeit verloren. Sie fanden sich an der Schwelle zwischen Individuum im Raum und Raum ansich sein. Der Sweetspot, an dem sie losgelöst von ihrem Umfeld waren, es aber trotzdem noch beobachten konnten. In diesem Zustand erhöhter Introspektion konnten sie aus ihrer subjektiven Realität die Anteile die mit dem Zusammenleben korrespondieren (ihre intersubjektive Realität) auseinanderklamüsern und sie somit direkt erfahren. Diese Erfahrung hat diese Individuen so sehr fasziniert, dass sie sie aufgeschrieben und verkündet haben. Sie waren überzeugt von der Wahrheit und Gültigkeit ihrer Ideen, weil sie sie selber erlebt haben. Das witzige ist, dass diese Ideen nichts an sich neues waren, nur eine Beobachtung fundamentaler Regeln die ein Zusammenleben erlauben. Als diese Propheten voller Leidenschaft tiefe Einsichten wie etwa man soll nicht stehlen verkündet haben wurden sie sicher oft wegen der Banalität ihrer Einsichten belächelt. Solche Situationen sind auch einer der Mechanismen von Humor, dazu aber an anderer Stelle. Ohne ihre Beobachtungen, Fragmentierung und Ausarbeitung dieser einfachen Ideen hätten sich diese Systeme nicht ausbreiten können. Sie wurden formalisiert, in Mythen gegossen und damit ihr Ausbreiten ermöglicht. Das soziale System konnte hoch skaliert werden. Die Geburt der Memes.

Memes sind ebenso wie DNA auch evolutionären Entwicklungen unterworfen. Einige setzen sich durch, verbreiten sich exponentiell, andere bleiben entweder lokal beschränkt oder verlieren sich langsam. Survival of the fittest gilt auch hier. Es gibt keine absolut starken oder richtigen Memes, ihr Erfolg ist immer bedingt von ihrem jeweiligen kulturellen Umfeld.

Einen hohen Stellenwert hat das Meme der Nächstenliebe, das sehr stabil zu sein scheint. Man findet es in Kulturen die sich unabhängig entwickelt haben. Vielleicht korrespondiert es zu einem Gen, einer Art Altruismus Gen. Vielleicht ist es aber auch eine Konsequenz davon, dass sich das Genmaterial unter den Menschen sehr stark ähnelt, es also eigentlich egal ist ob es die eigenen Gene oder die der Mitmenschen in die nächste Generation schaffen. Unter anderem wegen dieser Nächstenliebe, die letztendlich zum Ende der genetischen Evolution des Menschen geführt hat, hat ein Wettkampf der Memes den Wettkampf der Gene ersetzt.
Wenn das so ist, warum gibt es dann immer noch (genetischen) Rassismus? Vielleicht weil verschiedene Gene immer noch mit verschiedenen Memes, also Kulturbausteinen, assoziiert werden. Kein Gen-Rassismus, sondern ein Meme-Rassismus. Da sich Memes von außen aber schlechter erkennen lassen (außer durch Kleidung, Frisur, Tattoos, Körperschmuck, von denen sich aber alle faken lassen) als Gene, ist es eine Art Meme-Rassismus per Proxy.

Memes können sich im Laufe eines Lebens entwickeln, für Gene dauert es mehrere Gen-erationen. Vielleicht ist diese Evolution von Memes das, was Buddhisten unter Wiedergeburt verstehen. Die Wiedergeburt in verschiedene Existenzen kann innerhalb eines biologischen Lebens geschehen. Was sich ändert sind die Memes aus denen das Weltbild besteht, nicht die Gene aus denen die DNA besteht. Vielleicht sprechen Buddhisten auch gar nicht von einem Wesen, das sich über die Gene seiner DNA definiert, sondern einen davon losgelösten Wesen, das sich über die Memes seiner spirituellen DNA (gibt es dafür ein Wort?) definiert. Religionen haben ja unter anderem die Aufgabe dem Menschen die Angst vor dem biologischen individuellen Tod zu nehmen, bzw. diesen Vorgang einzuordnen, zu erklären. Das scheint mir eine ganz elegante Antwort zu sein.

Die Erfolgsmetrik von Memes ist dieselbe wie die von Genen. Es geht darum es in die nächste Iteration zu schaffen. Memes sind dabei nicht dem Rhythmus des genetischen Lebens unterworfen, sie existieren auf sowohl kürzeren als auch längeren Zeitskalen. Die Memes einer Zeit kann man an ihren kulturellen Produkten beobachten, wie z.B. Themen, Sprache, Bücher, Filme, Serien, Cartoons, Lieder, Bilder, Theaterstücke, Design, Architektur, Marketingmethoden, Höhlenmalerei, … Seit dem Aufkommen eines sozialen Systems, in dem es auch Gene im die nächste Generation schaffen, die in einer Welt ohne Kultur nicht fit genug dazu wären haben Memes eine höhere Relevanz als Gene, weshalb es wichtig ist sich mit ihnen zu beschäftigen.

Bücher dazu:

  • Adam Becker - What Is Real?: The Unfinished Quest for the Meaning of Quantum Physics
  • Joseph Campbell - The Hero With a Thousand Faces
  • Sean Carroll - Something Deeply Hidden: Quantum Worlds and the Emergence of Spacetime
  • Haruki Murakami - Killing Commendatore
  • Alan Watts - The Book on the Taboo Against Knowing Who You Are
  • Neil Gaiman - American Gods
  • Chögyam Trungpa - Cutting Through Spiritual Materialism
  • Richard Dawkins - The Selfish Gene
  • Daniel Kahneman - Thinking, Fast and Slow
  • Yuval Noah Harari - Sapiens: A Brief History of Humankind